26. Okt. 2011 | Nationalmannschaft | von Hans Lenk und Kraft Schepke

Der erste Olympia-Sieg im Rudern 1896 - konkurrenzlos und vergessen

Alle Olympiaberichte, Statistiken und olympischen Geschichtswerke melden bis heute einhellig, die olympischen Ruderwettbewerbe der ersten modernen Olympischen Spiele in Athen 1896 seien völlig wegen eines Sturms ausgefallen (le­diglich einige Matrosen oder Marinesoldaten mit ihren Kuttern werden als später wieder abgeschaffte "olympische Wettbewerbe" angeführt).

Diese Berichterstattung und die olympischen Statistiken müssen aber offenbar nun geändert werden. Kürzlich wurde wieder entdeckt, dass offenbar doch ein Rennen - und zwar der Doppelzweier - bei der angesetzten und begonnenen olympischen Ruderregatta in Piräus stattgefunden hat, während in der Tat die anderen olympischen Rennen in Rennbooten danach wegen des Sturms ausfallen mussten.

Über eine Vereinsveröffentlichung des Akademischen Ruderclubs Spandau (Berlin) wurde bekannt, dass der Vorläuferverein, der Akademische Ruderverein zu Berlin (1891 gegründet) 1936 einen Bericht seines Mitglieds Berthold Küttner veröffentlicht hatte. Küttner schilderte in seinem spannenden Bericht 1 nicht nur viele Abenteuer und teils kuriose Begebenheiten auf der Reise nach Athen und dort, sondern auch das erste olympische Ruderrennen der Welt 2

Der ARV Berlin erklärte sich damals bereit, zwei Ruderer, nämlich Berthold Küttner und Alfred Jäger, nach Athen zu schicken, obwohl die Olympischen Spiele bereits im April stattfinden sollten und daher das Training während des Winters im Norden schwierig war: Wegen relativ milden Wetters konnte man im Januar immerhin eisfrei rudern, wenn auch "einem die Hände dermaßen" "froren", dass man die Ruder nur sehr schwer festhalten konnte. "Wir mussten aber trotzdem durchhalten", schreibt Küttner, "da wir gegen Italien, England und Griechenland zu fahren hatten, die den ganzen Winter über offenes Trainingswasser haben".

Ab Februar allerdings trieben "ziemlich große Eisschollen ... die Spree hinunter. Wir mussten nun, um einigermaßen in Form zu bleiben, das Rudern durch anderen Sport wie Laufen, Radfahren und Reiten ersetzen." Im Februar war also in Berlin kein Rudersport mehr möglich; man musste zwei Wochen eher mit dem Zug nach Brindisi, mit der Fähre nach Patras und weiter wieder mit dem Zug nach Athen reisen. Einige Tage später beim Training in Piräus, dem Athener Hafen, fanden die beiden Ruderer nach einer falschen Meldung von der Ankunft der gegnerischen Rudererkameraden noch niemanden vor, mussten allein trainieren. Doch hierzu soll Küttner selbst das Wort haben:

"So zogen wir mit besonderem Interesse am nächsten Morgen zum Piräus, um den Gegner zu erkunden. Wir kamen früh hin und gingen spät weg, aber vom Feind (sic!, Zusatz H.L.), in Menschengestalt wenigstens, keine Spur. Ich hatte aber bald darauf trotzdem einen gehörigen Nervenkitzel, allerdings sehr unangenehmer Art und ich glaube, ich habe damals Rekordzeit gefahren, um das mir aufgezwungene Match zu gewinnen. Als ich nämlich im Einer Starten und Spurten übte - im Doppelzweier hatten wir schon gefahren -, sah ich in etwa 150m Entfernung in ziemlicher Geschwindigkeit etwas auf mich zukommen. Zuerst hielt ich es für ein lateinisches Segel, wie sie ja dort vielfach verwendet werden, konnte aber das dazu gehörende Boot nicht entdecke. Die Entfernung verringerte sich rapide und bei ca. 100m wurde mir zu meinem Entsetzen klar, dass der Gegenstand kein Segel, sondern die Rückenflosse eines Haifisches war, der mich scheinbar aufs Korn genommen hatte. Vielleicht wollte er nur mit mir spielen oder ein kleines Rennen machen.

Ich hatte aber nicht viel Lust, seine Absicht weiter zu erkunden, sondern dachte nur daran, schleunigst zu verschwinden trotz aller naturgeschichtlichen Interessen, welche bei mir entwickelt sind. Aber wohin? Die Küste, die ja der sicherste Zufluchtsort war, wäre am nächsten gewesen; denn Haie rennen sich dort fest, wenn sie eine Beute verfolgen, oder drehen vorher ab. Ich wusste aber nicht, ob die Küste hierzu flach genug war. Also blieb die einzige Möglichkeit, den kleinen, inneren Hafen Phaleron zu erreichen, Ich musste ich schnell entscheiden, denn der Schlot kam verdammt schnell heran, und so entschied ich mich für den Hafen und fing an zu spurten. Zu meiner Genugtuung bemerkte ich, dass er nur langsam näher kam und mit einem 38er Schlag konnte ich das Rennen bequem schaffen. Auch war es mir jetzt ganz unzweifelhaft, dass er hinter mir her war. Der Eingang des Hafens war sehr schmal, nur etwa 20m breit und kein Hai geht da hinein, wenn er nicht fürchterlich verhungert ist. Ich hatte noch 150m zu fahren, und er war auf ca. 60m heran. Ich gewann das Handicap und meine Kalkulation war richtig: denn als ich knapp durch die Einfahrt war, drehte er ab, etwa 20 m hinter mir und zeigte mir seinen silberweißen Bauch von ca. 5 m Länge. Er musste also mindestens 6 m lang sein, war ein sogenannter Blauhai (Caicharias glaukus), der Menschenhai des Mittelmeeres.

Die Naturkundigen am Stammtisch erzählten, dass Haie im Piräus öfter gesehen worden sind und manchmal unglaublich frech wären, von Schiffen aus öfter geangelt werden, dass aber auch Badende öfter angegriffen worden sind. Manchmal sind sie feige und sind durch heftiges Umsichschlagen und Planschen zu vertreiben. Wenn sie aber großen Hunger haben, greifen sie trotzdem an und sind dann schwer abzuschütteln. Jedenfalls habe ich Glück gehabt, denn wenn ein Hai einmal Menschenfleisch gekostet hat, ist er von seiner Beute nicht mehr abzubringen. Unglücklicherweise hatte Jäger den Vorfall bemerkt, was ich ihm lieber erspart hätte; denn unser weiteres Training wurde nun sehr eingeschränkt, da er vom Hafeneingang nicht mehr wegzukriegen war, obwohl ich nicht glaube, dass im Doppelzweier die Begegnung so gefährlich gewesen wäre. Immerhin war er anderer Meinung, und ich hätte es auf einen Versuch nicht ankommen lassen mögen, denn bei seiner Nervosität wären wir sicher umgekippt."

Gespannt wartete man nun auf den Regatta-Tag und den Beginn der Rennen, die für den 13. April 1896 angesetzt waren. Auch hierzu soll Küttners lebendiger Bericht wörtlich wiedergegeben werden:

"Endlich war nun auch unser Tag gekommen. Herrlich lachte die Sonne vom Himmel hernieder und eine leichte Brise wehte durch das Land. Die Regatta übertragen worden war, am Vormittag ihren Anfang. Die gesamte königliche Familie war anwesend. Der Doppelzweier sollte zuerst gefahren werden, da sich der Wind inzwischen schon sehr verstärkt hatte. Auf einem Fischerkahn brachten wir unser Boot zum Startplatz, und wir hatten wegen des Wellenganges schon Mühe, ins Boot zu kommen. Von unseren Gegnern war keiner erschienen, obwohl Griechen und Italiener gemeldet waren. Weiteres Warten auf diese schien nutzlos, und so bedeutete uns der Starter, ohne Konkurrenz zu fahren.

Das zweite Rennen sollte ein Einer-Rennen sein, wozu auch mein Boot zur Stelle war, aber vom Leichter aus hinein zu kommen erwies sich als unmöglich; denn der Wind hatte sich inzwischen weiter verstärkt, und eine andere Einsteigemöglichkeit war nicht gegeben. Das Einer-Rennen sollte daher am Ende der Regatta gefahren werden, da man hoffte, dass die Wogen, denn solche waren die Wellen inzwischen geworden, sich bis dahin etwas beruhigt haben dürften.

Von meinen Gegnern, die aus Griechen, Italienern, und Franzosen bestehen sollten, war wieder keiner erschienen. Ich erhielt nun die Aufforderung, zur Beratung in die Königsloge zu kommen; denn inzwischen war auch das dritte Rennen der Matrosen in den Ruderbooten ihrer Kriegsschiffe durch die schlechte Laune Neptuns vereitelt worden, indem sämtliche Boote strandeten. Ich hatte Mühe, mir eine Jacke zu verpassen, denn Menschen meiner Größe waren in Griechenland eine Seltenheit. Nachdem ich nach langem Suchen etwas Jackenähnliches aufgetrieben hatte, begab ich mich zu Seiner Majestät. Bundesbruder Jäger hatte inzwischen für den Rücktransport der Boote zum Bootshaus zu sorgen. Nach der offiziellen Begrüßung und Vorstellung in der Hofloge, wo mancher der Anwesenden ein Lachen über meine Kleidung nicht verbeißen konnte, belobte mich Prinz Georg, der Präsident des Komitees, für unser Erscheinen auf der Rennstrecke und händigte mir die bronzene Siegermedaille aus. Gleichzeitig gab er mir auch eine solche für Bbr. Jäger. Die Teilnehmermedaille, die jeder Kämpfer bekam, hatten wir schon vorher erhalten. Es wurde nun im hohen Rat beschlossen, die Regatta zu vertagen, da das Wetter vorläufig keine Neigung zeigte, sich zu ändern. Am nächsten Tage war der Wind aber noch stärker, und somit wurde die Regatta oder wenigstens deren Weiterführung endgültig aufgegeben. Die Ironie des Schicksals! Drei Wochen waren wir in Athen und jeden Tag hatten wir bei schönstem Wetter und ruhigem Wasser unsere Übungsfahrten abhalten können, aber nun war mit einem Schlage alles hoffnungslos aus".

Die beiden Ruderer, Küttner und Jäger, hatten also das Rennen "ohne Konkurrenz" gefahren und wurden mit der "bronzenen Siegermedaille"3 vom "Prinzen Georg", dem Präsidenten des olympischen Organisationskomitees, ausgezeichnet. Die restliche Regatta konnte dann nicht mehr stattfinden, denn auch am nächsten Tage tobte der Sturm auf der Ruderstrecke vor Piräus.

Immerhin hatte der Doppelzweier, wenn auch ohne Gegner, die Rennstrecke abgefahren (eine Zeit ist leider nicht überliefert) - also sozusagen, wie aus der Antike öfters berichtet, "ohne Gegner" siegen können. Bei den antiken Olympischen Spielen gab es eine Reihe von Entscheidungen "ohne Gegner" ("ohne Staub", das heißt, die bei den Ring- und Allkämpfen zu derartigen Siegern proklamierten Athleten, die sich zuvor eingeölt hatten, wiesen keinen Staub auf, waren "Akoniti", Staublose, oder hatten "akonitei" ("ohne Staub") ihren Wettkampf absolviert. (Auch bei den modernen Olympischen Spielen, etwa im Segeln 1908 und 1920, gab es ein halbes Dutzend Segelrennen ohne Gegner...).

Der Doppelzweierkampf mit dem Sturm ist, wie uns sofort nach der Lektüre des zufällig (auf Veranlassung eines ATV-Mitgliedes, St. Ploke) zugegangenen Textes aufging, somit der allererste Olympiasieg im Rudern überhaupt!. Das ist insofern ein "Sensatiönchen", als wie erwähnt alle Olympiaberichte die Regatta als vom Winde verweht gemeldet hatten (ausgenommen auch die ebenfalls abgebrochenen Kriegsbarkenrennen der Marine­soldaten, die am 24. April nochmals durchgeführt wurden - über 2000 Meter, mit sechs Ruderern und einem Steuermann, sowie über 3000 Meter mit 16 Mann 4 Besatzung.

Der erste Ruderolympiasieg fand also konkurrenzlos (ohne angetretene Gegner) statt und wurde vergessen, nicht mehr erwähnt. Dennoch war und ist das Ruder-"Rennen" unserer zwei Berliner Bootshelden, angesichts der antiken olympischen Tradition von "staublos" möglichen Siegen wie auch der späteren modernen Olympiasiege ohne Gegner im Segeln, als Olympiasieg zu werten, zumal eine "Siegermedaille" vom Präsidenten des olympischen Organisationskomitees im Anschluss an das Rennen in der königlichen Loge überreicht wurde.

Interessant und erfreulich ist, dass nunmehr auch der Deutsche Ruderverband sozusagen mit Augenzwinkern auf den ersten Olympiasieg im Rudern überhaupt zurückblicken und dieses statistisch vermerken kann - eine nach allen Überlieferungen kaum noch er­wartete Überraschung. 5

In die deutschen und internationalen Olympia-Annalen sind also die beiden "staubfreien" Olympiasieger Berthold Küttner (3.3.1870 bis ?) und Alfred Jäger (1873/4 bis 2.10.1960) als Olympiasieger der ersten Stunde aufzunehmen. Kein großer Schritt für die olympische Menschheit, aber ein kleines Schrittchen recht später olympischer Gerechtigkeit.

  • 1 Zu finden im Internet unter

    http://home.arcor.de/gerd.breuer/olympia1896.htm
  • 2 In der Antike gab es bei den olympischen Wettkämpfen natürlich keine Ruderwettbewerbe.
  • 3 Lennartz - Höfer schreiben in "Olympische Sieger" Berlin 2000, 99ff: "Da die Griechen sparen mussten, waren die Siegermedaillen aus Silber, der Zweite erhielt eine Bronzemedaille. Davon unterschied sich die bronzene Erinnerungsmedaille". Ging das Sparen soweit, dass für die Ruderregatta keine silbernen, sondern nur bronzene Siegermedaillen vorhanden waren? Immerhin erhielten Küttner sowie Jäger eine "Siegermedaille", wurden also für den olympischen Sieg ausgezeichnet.
  • 4 Vgl.: Kamper, E.: Enzyklopädie der Olympischen Spiele. München 1972, S. 178.
  • 5 Inzwischen haben Nachforschungen in den Papieren des ehemaligen IOC Präsidenten Vikelas (Griechenland) eines Mainzer Doktoranden die Informationen Küttners bestätigt (Mitteilung Prof. Dr. Norbert Müller). Das offene Problemchen, ob die überreichte Siegermedaille silbern oder bronzen war - und warum, kann dabei außer Acht gelassen werden.

Der Bericht von Berthold Küttner kann demnächst in der internationalen Zeitschrift für Sportgeschichte auf Englisch nachgelesen werden.