Kathrin Marchand: Aufgeben ist keine Option
Der 01.09.2021 verändert das Leben von Kathrin Marchand - einer Ärztin und zweifachen Olympionikin. Sie will es erst nicht wahrhaben, aber als Medizinerin versteht sie es sofort: Sie hat einen Schlaganfall und von nun an ist ihr Leben eingeschränkt.
Aber eines nach dem anderen - bis 2016 betreibt die gebürtige Kölnerin Rudern als Leistungssport; Feiert zahlreiche nationale und internationale Erfolge und fährt 2012 und 2016 sogar zu den Olympischen Spielen nach London und Rio de Janeiro. Nach ihrer zweiten Olympiateilnahme beendet sie ihre Karriere, um ihr Medizinstudium abzuschließen. Ihr Leben nimmt seinen Lauf. Sie arbeitet in einer Notaufnahme, schiebt Nachtschichten und treibt zum Ausgleich Sport.
So auch im September 2021: Die damals 30-Jährige sitzt auf ihrem Spinning Bike und absolviert einen Onlinekurs. Plötzlich fühlt sie sich komisch. Ihr linkes Bein - eigentlich die komplette linke Körperhälfte - wird taub. Der ehrgeizigen Sportlerin war sofort klar, dass sie den Kurs nicht beenden werden kann, zumal sie das Display nicht mehr ganz erkennen konnte. Die Gedanken kreisen. Erst nach einer Stunde schafft sie es den Notarzt zu rufen. In der Notaufnahme bestätigt sich ihr Verdacht und eine Welt stürzt für sie zusammen - Kathrin Marchand hat einen Schlaganfall erlitten. Dass sie bleibende Schäden behalten wird, ist ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Fast neun Monate wird sie überhaupt nicht arbeiten können, danach beginnt sie wieder zu arbeiten. Sie steigert ihre Arbeitszeit nach und nach bis auf maximal 20 Stunden pro Wochen auf vier Tage verteilt. Mehr geht nicht. Die Sportlerin will so bald wie möglich wieder Sport machen, sogar, bevor sie wieder arbeiten kann. Nach einer weniger hilfreichen einmonatigen Reha umringt von Rommé spielenden Omas, nimmt sie ihr Training selbst in die Hand. „Einmal hat mich ein Therapeut zu einem sogenannten Outdoortraining abgeholt“, erzählt Marchand, „Wir sind losgegangen und haben uns unterhalten. Plötzlich sagt er: „Das hat doch jetzt super geklappt!“ Da war ich total verwirrt, weil ich die ganze Zeit gedacht habe, da kommt noch was. Für diese Art von Reha war ich einfach die falsche Zielgruppe. Mir bringt ein aktiver Alltag mehr als dieser Spaziergang“. Nach dieser Erkenntnis macht sie in Eigenregie und in ihrem eigenen Tempo einen Schritt nach dem anderen in die richtige Richtung.
Im März 2022 fährt sie mit ihren Eltern in die Schweiz zu ihrem Bruder. Im Radio läuft Musik, dann folgt ein Bericht zu den paralympischen Winterspielen. Daraufhin beginnt sie zum Thema paralympischer Sport zu recherchieren. So kommt ihr die Idee möglicherweise selbst Para-Ruderin zu werden. Schließlich kann sie rudern und die Liebe zum Sport konnte auch der Schlaganfall nicht schmälern. Also erkundigt sie sich nach den Rahmenbedingungen: „Wie viel Zeit muss ich investieren, um Para-Rudern sinnvoll betreiben zu können und reichen meine Einschränkungen überhaupt für eine Klassifizierung? Ein Drittel des Sichtfelds fehlt mir, ich sehe auf beiden Augen oben links nichts. Außerdem habe ich eine leichte Hemiparese, also ich bin auf der linken Seite schwächer, worüber ich dann im Endeffekt auch Ende August 2022 klassifiziert wurde. Dann ist es ganz schnell gegangen. Zwei Mannschaftskollegen sind krank geworden und ich sollte auf der Europameisterschaft starten.“
Marchand wurde von der FISA in die Gruppe PR3 klassifiziert, wobei PR für Pararudern steht. In dieser Klasse können die Athleten die volle Rollbahn nutzen. Damit sind die Sportler am wenigsten beeinträchtigt.
Die zweite Klasse ist PR2. Hier ist der Rollsitz fest, jedoch können die Athleten die Arme und den Oberkörper bewegen.
In der Klasse PR1 können nur noch Teile des Oberkörpers, die Arme und die Schultern mit dem oberen Rücken zum Rudern benutzt werden.
Eine vierte Klasse bilden die IDs (intellectual disabled). In diese Gruppe werden alle Athleten mit einer geistigen Behinderung klassifiziert. Im Gegensatz zu den Klassen PR1, PR2 und PR3 ist die Klasse der IDs nicht paralympisch.
Kathrin Marchands sehr erfolgreiche Saison 2022 wird mit dem dritten Platz auf den Europameisterschaften, dem Vizeweltmeistertitel und der Wahl zum Para-Team des Jahres gekrönt.
Das war letztes Jahr. Mittlerweile hat sie das Training mit allen Schwierigkeiten in ihren Alltag integriert. Da sie nach ihrem Schlaganfall nicht mehr Autofahren darf, fährt die junge Ärztin alles mit dem Fahrrad. Sie arbeitet 20 Stunden in einem orthopädischen Krankenhaus, das durch Zufall auch Kooperationspartner des DOSB ist. Somit hat Marchand auch im Job den Bezug zum Sport und die Kollegen haben Verständnis dafür, dass sie nebenbei rudert und ihren Urlaub so nehmen muss, dass sie auf die Wettkämpfe und Trainingslager fahren kann. Im Vergleich zu ihrer Ruderkarriere vor dem Schlaganfall ist es nicht mehr so einfach Rudern und Karriere unter einen Hut zu bekommen: „Es ist nicht mehr so einfach wie wenn man studiert und halt mal nicht zur Vorlesung geht.“
Auch ihr Bootsgefühl und die Intensität der Rennen hat sich verändert: „Im Pararudern ist es schon irgendwie anders - ich investiere viel weniger Zeit ins Rudern. Ich arbeite und rudere nebenbei und bin trotzdem international erfolgreich. Wir rudern natürlich nicht so gut wie ein Männerachter, das ist klar. Das können wir gar nicht. Ich kann z.B. den Riemen gar nicht so schnell durchs Wasser ziehen wie früher. Auch die psychische Belastung im Rennen ist ganz anders. Es gibt diese ganz engen Kopf-an-Kopf-Rennen nicht, dazu sind wir einfach viel zu wenige Pararuderer. Dennoch dürfen wir nicht zu locker damit umgehen, die anderen Nationen schlafen nicht und dieses Jahr wird es garantiert nicht einfach die Quali zu schaffen. Insgesamt habe ich noch nicht ganz verstanden, wie sich der Bootslauf anfühlen muss, damit es gut ist.“
Auf die abschließende Frage, welcher ihrer Erfolge ihr am meisten bedeutet, antwortet Marchand: „Das ist eine Frage, die ich mir auch oft stelle. Es gibt viele Erfolge, wo einfach coole Rennen dahinterstecken, z.B. 2016 während der Europameisterschaft, der Kommentator ist kurz ausgerastet als wir nach 500m drei Zehntel hinter den Briten waren, die waren zu dem Zeitpunkt ungeschlagen und wir fahren da ran - solche Rennen machen halt mega Bock oder auch 2012 die Nachquali im Achter, wo wir vier Zehntel vor den Weißrussen waren und uns für Olympischen Spiele nachqualifiziert haben, womit keiner gerechnet hat. Das war für mich eh so eine Saison von der ich gedacht hab, ich mach halt einfach mal mit - so vom U23 Bereich in den A-Bereich - und dann zu den olympischen Spielen zu fahren, das war einfach cool.“