Sabine Tschäge im Interview: Spaß gehört auch zum Training
Seit über 20 Jahren arbeitet Sabine Tschäge als Ruder-Trainerin. Nach dem Olympia-Silber für ihre Schützlinge Jason Osborne und Jonathan Rommelmann im Leichtgewichts-Doppelzweier bei den Spielen in Tokio hat sich für die 52-Jährige aber einiges verändert. Ende 2021 wechselte sie an den Bundesstützpunkt Dortmund, vor zwei Monaten wurde ihr die Leitung des dort angesiedelten Männer-Riemen-Bereichs übertragen. Der olympische Erfolg brachte ihr auch die Kür zur deutschen Trainerin des Jahres, zudem berief sie der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in seine Trainer-Kommission.
Im großen Interview mit rudern.de spricht Sabine Tschäge über die Ziele in Dortmund, ihre Umgangsweise mit Athleten, die Unterrepräsentierung von Frauen im Trainer-Beruf und klärt auf, ob es zu einem Comeback von Osborne/Rommelmann kommen wird.
Sabine, wie hast Du reagiert, als das Angebot kam, nach Dortmund zu wechseln?
Sabine Tschäge: Die Frage, ob ich das machen soll, hat mir viele schlaflose Nächte bereitet. Auf Dortmund ist der Fokus sehr stark gerichtet. Außerdem habe ich den U-19-Bereich, in dem ich vor der Übernahme des leichten Zweiers gearbeitet hatte, sehr gerne gemacht. Die Zusammenarbeit unter den Trainerkollegen ist im Nachwuchsbereich sehr gut. Den Jugendlichen etwas beizubringen und ihnen dabei zu helfen, in eine erfolgreiche Ruderkarriere zu starten, macht mir sehr viel Spaß. Ich musste abwägen, begebe ich mich in das „Haifischbecken“, oder bleibe ich im Nachwuchs-Bereich. Letztlich sagte ich mir, Du möchtest vorwärtszukommen, also habe ich den Sprung gewagt.
Wie war die Aufnahme in Dortmund?
Die war völlig in Ordnung. Wir kannten uns ja alle schon mehr oder minder gut. Es gab eine kurze Einarbeitungszeit, dann ging es schon in die Vollen, um die Zweier vorzubereiten. Klar war das eine Umstellung, denn den letzten Zweier im U23-Bereich hatte ich mit Laurits Follert vorbereitet, der dann erfolgreich seinen Weg gemacht hat. Ich musste mich da hinein frickeln, aber letztendlich geht es immer darum, ein Boot schnell zu machen.
Seit zwei Monaten hast Du nun auch die Leitungsfunktion. Mehr Arbeit, mehr Verantwortung.
Hinzugekommen ist für mich damit die ganze Organisation. Es ist allerdings so, dass der Bereich vorher schon sehr gut organisiert war und nicht alles neu geregelt werden muss. Uwe Bender, der auch hinzugekommene Thomas Affeldt und ich versuchen, im Team zu entscheiden und unsere Erfahrung einzubringen. Jeder von uns steuert etwas bei, was die Mannschaften nach vorne bringen kann.
2023 geht es darum, Achter und Vierer bei der WM für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Den Druck gibt es, wie geht man damit um?
Das ist unser oberstes Ziel, darauf arbeiten wir hin, aber es ist nicht so, dass wir tagtäglich daran denken. Wir wollen Stück für Stück weiterkommen und dafür ist es besonders wichtig, die Athleten zu motivieren. Auch indem wir ihnen vermitteln, dass wir daran glauben, es zu schaffen. Wenn wir beim Achter auf die Ergebnisse von 2022 schauen, die WM ausklammern und die vielen Störgrößen in Betracht ziehen, bin ich überzeugt, dass wir es hinkriegen. Mein Eindruck ist, dass Athleten und Trainer sehr motiviert sind und bereit, den Weg anzugehen.
Wer es nicht in den Deutschland-Achter schafft, soll sich nicht als Verlierer fühlen. Mit dem Vorsatz, auch einen starken Vierer und Zweier zu entwickeln, bist Du angetreten. Du hast das mit dem Aufbau des jungen Vierers untermauert, der in diesem Jahr bei der EM und der WM jeweils Siebter wurde und den Sprung ins Finale jeweils nur knapp verpasste, in diesem Jahr schon gelungen. Wird es auch einen neuen Zweier geben?
Was welche Wertigkeit bekommen wird, können wir jetzt noch nicht sagen. Klar ist der Achter, der mit seinem Mythos eine Ausnahmestellung hat, die ein Glücksfall fürs gesamte Rudern ist. Andere Sportarten beneiden uns darum. Wer es nicht in den Achter schafft, weil es ihm vielleicht an einer bestimmten Fähigkeit mangelt, der ist immer noch ein guter Ruderer und kann vielleicht einen schnellen Vierer oder Zweier schaffen. Ob wir genügend Manpower besitzen, um beide Bootsklassen adäquat besetzen zu können, muss der Prozess der nächsten Monate zeigen. Der Vierer bestand abgesehen von Malte Großmann in diesem Jahr aus Ruderern, die noch keine WM-Erfahrung hatten. Sie haben darauf gebrannt, dort hinzugehen, und auch ein Erfolgserlebnis gehabt. Das müssen wir wieder kreieren, ein Erfolgserlebnis und kein Abstellgleis.
Wird der Vierer wieder so aussehen wie dieses Jahr?
Kann man nicht sagen. Die Uhr ist jetzt auf null gestellt und jeder bewirbt sich auf alle zu vergebenden Positionen. Wir schauen, wer wo am besten einzusetzen ist. Es wird im Laufe der Zeit sicher auch schwierige Entscheidungen geben, wo es zwischen gleichwertigen Athleten um Nuancen geht und letztlich die Trainer-Meinung den Ausschlag gibt.
Bleibt Dir genügend Zeit für die Trainingsarbeit?
Ich arbeite weiter mit den Athleten, aber die Orga-Arbeit und der ganze Papierkram sind jetzt oben drauf gekommen. Manchmal ist es auch etwas schwierig, weil ich mich mehr, als ich dachte, um Dinge kümmern muss, die mit dem Sport nichts zu tun haben. Letztlich bin ich immer noch Trainerin und kein Schreibtischtäter. Das Potas-System hat alles aufwändiger gemacht und es gibt es auch Dinge, die aus meiner Sicht dringend nachgebessert werden müssen.
Was stört dich?
Man kann den Sport nicht verwalten wie andere Bereiche. Wir haben den unberechenbaren Faktor Mensch. Ein 14-Jähriger tickt noch nicht so, als dass man sagen könnte, der wird Olympiasieger. Auf dem Weg dorthin gibt es sehr viele Unwägbarkeiten, die man mit ihm zusammen lösen muss, um diesen Weg überhaupt beschreiten zu können. Man vergisst, dass wir eine Sportlandschaft brauchen, in der man auch gerne Sport machen, und wo es nicht nur um Einordnung in Tabellen, Kader etc. geht.
Bei deinen bisherigen Schützlingen scheint Dir das gut gelungen zu sein – eine Atmosphäre zu schaffen, in der man gerne Sport treibt. Jonathan Rommelmann, den Du schon als Vereinstrainerin in Krefeld betreut hast, hat nach dem Olympia-Silber im leichten Doppelzweier gesagt, Du würdest Sportler als mündige Athleten behandeln und ein Umfeld schaffen, in dem man jederzeit bereit sei, 100 Prozent zu geben.
Das mache ich vielleicht eher unbewusst. Ich gebe immer mein Maximum, damit es vorwärts geht. Das erwarte ich auch von dem Athleten, der mit mir die Reise antritt. Es braucht ein Feuer, das in ihm brennt, damit es funktioniert. Wenn es draußen drei Grad hat und alle anderen auf dem Sofa liegen, geht er raus, macht seine 20 Kilometer, und am Nachmittag noch einmal die gleiche Rutsche. Er macht das nicht, weil es so schön ist, sondern weil er knallhart ein Ziel verfolgt. Dafür muss es im Training aber auch Momente geben, die Spaß machen. Spaß haben bedeutet nicht, dass ich die Sache nicht ernsthaft betreibe.
Trotzdem wird es nicht ausbleiben, dass Athleten und Du auch mal aneinandergeraten.
Natürlich nicht. Jonny und Jason, wir haben uns auch mal angezickt. Aber wir haben danach immer versucht, die Situation zu lösen. Die Trainer verbringen im Trainingslager den ganzen Tag mit den Athleten und wir haben viele solcher Trainingsblöcke. Wir sind mehr zusammen als manche Ehepaare. Und in welcher Ehe kracht es nicht manchmal?
Für die Beziehung zum Athleten ist es aber wohl sehr förderlich, wenn man als Trainer:in Empathie mitbringt und alles nicht nur technokratisch gestaltet.
Ich glaube, es wird nicht funktionieren, wenn man sich gar nicht für den Athleten als Mensch interessiert. Wir sind in Dortmund eine große Gruppe. Da ist es immer wieder interessant, zu hören, was den Einzelnen so bewegt. Und es ergeben sich Ansatzpunkte, wie man den Athleten besser fördern kann.
„Es kommt nicht auf Frau oder Mann,
sondern auf die Persönlichkeit an.“
Sabine Tschäge
Du und Cheftrainerin Brigitte Bielig seid die einzigen Spitzentrainerinnen im Elite-Bereich. In Dortmund bist Du folglich in eine bis dahin reine Männer-Gesellschaft gekommen. Du betonst aber gerne, dass das Geschlechter-Thema für Dich eigentlich keines sei. Egal ob Trainerin oder Trainer, entscheidend sei die Leistung.
Anders kann man das auch nicht sehen, finde ich. Ich beobachte mit großer Freude, dass es selbst bei unserem deutschen Lieblingssport Fußball mittlerweile gelassener gesehen wird, dass es auch Schiedsrichterinnen gibt. Die treffen manchmal eine Fehlentscheidung, genauso wie die Männer. Fehler werden nicht mehr auf das Geschlecht zurückgeführt, sondern auf die persönliche Leistung. Ich warte auf den Tag, dass es eine Frau als Trainerin einer Männer-Mannschaft in einer höheren Fußball-Liga gibt, dann würde sich alles noch mehr normalisieren. In der Gesellschaft hat es sich schon weitgehend durchgesetzt, dass es nicht auf Frau oder Mann, sondern auf die jeweilige Persönlichkeit ankommt.
Wahrscheinlich sind wir als Gesellschaft aber noch nicht so weit, dass wir besondere Leistungen von Frauen nicht öffentlich würdigen sollten – ganz einfach, weil die Wahrnehmung dafür etwas bewirken kann. Du bist vergangenes Jahr vom DOSB zur Trainerin des Jahres gekürt worden – diese eigene Kategorie für Frauen war zum ersten Mal eingeführt worden. Diese Ehrung hat, nehme ich mal an, ein großes Echo ausgelöst.
Ich fand das gut, auch wenn man sich auf den Standpunkt stellen könnte, das müsse eigentlich nicht getrennt für Frauen und Männer sein. Aber die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Bei den Olympischen Spielen in Tokio war die Zahl der akkreditierten Trainerinnen noch immer verschwindend gering. Wenn man gegen diese Unterrepräsentierung keine Frauen-Quote setzen will, dann ist es wichtig, Vorbilder zu schaffen, die anderen Frauen zeigen, dass es möglich ist, nach oben zu kommen. Dass es sich lohnen kann, den Beruf der Trainerin zu ergreifen.
Du warst einmal auf dem Weg, Lehrerin zu werden, hast Dich aber dann nach nicht so positiven ersten Praxiserfahrungen entschieden, dein Hobby als Rudertrainerin zum Broterwerb zu machen. Kannst Du in drei Sätzen beschreiben, was das Schöne an diesem Beruf ist?
Erstens: Ich mag es, mit Athleten zu arbeiten. Man trifft sich auf einer gemeinsamen Ebene. Die wollen etwas, ich will etwas. Zweitens: Es wird nie langweilig, man wird immer wieder gefordert. Drittens: Rudern empfinde ich als sehr ehrliche Sportart. Mit Arbeit und Kontinuität kann man viel erreichen.
Was sind die Schattenseiten?
Erstens: Immer unterwegs zu sein, wenig Zeit für Anderes zu haben. Zweitens: Wenn es nicht läuft, bist Du der Buhmann und das ist nicht immer ganz fair, was dann läuft. Drittens: die Bezahlung ist nicht leistungskonform. Letztes Jahr wurden unter fadenscheinigen Gründen vom Bundesinnenministerium die Prämien für Trainer gestrichen, dabei kriegen wir auch kein Weihnachts- und Urlaubsgeld. Ich spreche da nicht nur für die Trainer im Spitzenbereich, sondern auch für die im Nachwuchsbereich. Auch die müssten eine vernünftige Bezahlung bekommen. Es ist ein Fulltime-Job, den man da macht, und meines Erachtens auch ein Dienst an der Gesellschaft. Der müsste auch entsprechend entlohnt werden.
Ein mögliches Comeback von Osborne/Rommelmann für Paris, wenn der Leichtgewichts-Doppelzweier letztmals im Programm stehen wird, stand im Herbst im Raum. Wie sieht es damit aus?
Jonny hat gerade sein drittes Staatsexamen abgelegt und kann jetzt als Arzt auf die Menschheit losgelassen werden. Er trainiert bereits seit einiger Zeit wieder eifrig, der Prüfungsblock überschnitt sich aber mit der Langstrecke Dortmund, ansonsten hätte er dort schon teilgenommen. Jetzt will er richtig attackieren. Das Thema Jason ist allerdings durch, er bleibt im Radsport.
Das heißt, Jonny braucht einen neuen Partner.
Wenn er sich beweist, ja.
Aber Du wirst nicht mehr die Trainerin sein können.
Nein, das geht nicht. Vielleicht ist das ja auch eine Chance und es reicht in Paris zu Gold (lacht).
Wie feierst Du Weihnachten und Silvester?
Zu Hause in der Familie. Diesmal wird es eine größere Sache. Ich bin wieder in meinen Heimatort Mülheim an der Ruhr gezogen. Dort leben nach einem großen Umbau jetzt mehrere Generationen in einem Haus: Unten mein Bruder mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter, in der Mitte meine Eltern, unter dem Dach wohnen meine Freundin und ich. Für Silvester müssen wir noch überlegen. Ab 3. Januar bin ich schon wieder unterwegs, das erste Winter-Trainingslager in Portugal beginnt.
Zur Person
Sabine Tschäge kommt aus Mülheim an der Ruhr. Sie ruderte selbst, begann aber schon mit 20 Jahren als Trainerin bei der Renn-Ruder-Gemeinschaft-Mülheim/Ruhr. Während ihres Lehramtsstudium für Sport und Sozialwissenschaften in Essen entschied sie sich, beruflich als Rudertrainerin zu arbeiten und das Studium zur Diplom-Trainerin DOSB in Köln zu absolvieren. Ihr erstes hauptamtliches Engagement hatte sie beim Hessischen Ruderverband, danach ging sie zum Crefelder Ruder-Club. 2017 kam Tschäge zum DRV und wurde Bundestrainerin im U19-Bereich. 2020 sprang sie beim Leichtgewichts-Doppelzweier ein, den sie schon zuvor erfolgreich betreut hatte. Seit 2021 ist sie Trainerin am Bundesstützpunkt in Dortmund.